Dr. Johanna Barbara Sattler im Dialog mit dem Schreibmotorik Institut November 2017
Linkshändige Kinder: „Aufklärung, Information und Ruhe bewahren“
Im Gegensatz zu früher werden Linkshänder mittlerweile kaum noch bewusst umgeschult. Linkshändigkeit ist normaler geworden. Aber heißt das auch, dass damit richtig umgegangen wird? Und wie können Problemen, mit denen Linkshänder konfrontiert sind, vorgebeugt werden? Ein Interview mit Dr. Johanna Barbara Sattler, Psychologin, Psychotherapeutin und Leiterin der Ersten deutschen Beratungsstelle für Linkshänder und umgeschulte Linkshänder.
Sind pädagogische Fachkräfte heutzutage besser auf den Umgang mit linkshändigen Kindern vorbereitet?
Linkshänder werden tatsächlich nicht mehr in der Art umgeschult wie früher. Das Problem heute sind die Kinder, die sich durch Nachahmung und Modellverhalten schon sehr früh selbst umschulen und sich an die rechtshändige Umwelt anpassen. Da ist die Aufmerksamkeit von Eltern, pädagogischen Fachkräften, aber auch den Kinderärzten gefragt. Vor allem bei den Kinderärzten ist es sehr vom einzelnen Arzt abhängig, ob er über die Händigkeit bei Kindern Bescheid weiß und die Eltern entsprechend informiert. Im medizinischen Vorsorgeheft, das jede Mutter nach der Geburt ihres Kindes bekommt, steht dazu leider kein einziges Wort. Auch in vielen Bildungsplänen für Kinderkrippen und Kindergärten oder den Kompetenzlehrplänen für die Erzieherausbildung wird der Umgang mit Linkshändigkeit nicht thematisiert. Es hängt also sehr stark davon ab, welches eigene Wissen, welche persönliche Betroffenheit oder Erkenntnisse und Erfahrungen aus Fortbildungen eine Fachkraft zu diesem Thema mitbringt.
Warum ist es so wichtig, dass die Fachkräfte Bescheid wissen?
Das Thema braucht schon sehr früh eine besondere Aufmerksamkeit, damit Kinder nicht versehentlich umgeschult, sondern linkshändig bleiben und optimal auf das Schreiben mit der linken Hand vorbereitet werden. Erzieher und Eltern sollten wissen: Lasst das Kind sich in Ruhe entwickeln, beobachtet, aber redet nicht darüber und gebt einem linkshändigen Kind die passenden Gebrauchsgegenstände. Mehr braucht man nicht zu tun, aber das wäre wichtig. Schon in der Krippe sollte auf die sich entwickelnde Händigkeit geachtet werden, aber vor allem im Kindergarten sollten die Pädagogen darauf achten, dass sie den Kindern die Sachen mittig hinlegen, Linkshänderscheren anbieten und Spitzer mit einer anderen Drehrichtung und dass sie die Kinder auch entsprechend im Umgang mit Linkshändermaterial anleiten können. Ein Linkshänder zum Beispiel wird eine Spirale anders herum ausschneiden. Bei den Buntstiften und Wachsmalkreiden wären wichtig, dass sie dreieckig sind, damit die Kinder den Dreipunktgriff besser lernen und dass die Buntstifte weich und von guter Qualität sind. Außerdem sollten Linkshänder auf die richtige, schräge Blattlage vorbereitet werden. Wenn linkshändige Kinder im Kindergarten schon drei Jahre von sich aus und mehr oder weniger unangeleitet malen und erste Buchstaben schreiben, ist eine Änderung der Schreibhaltung in der Schule sehr spät und Vorschläge zu einer Änderung der Schreib- und Stifthaltung werden kaum noch angenommen.
Das Problem fängt also nicht erst beim Schreiben an, sondern bereits beim Malen?
Besonders die Kinder, die kurz vor der Einschulung sehr fit sind und bereits viele Buchstaben schreiben können, haben meistens eine Schreibhaltung eingeübt und oft auch schon automatisiert, die ganz unvorteilhaft ist und diese Kinder haben große Probleme, das dann in der Schule noch zu ändern. Ich bin auch der Meinung, dass der Füller in der Schule zu spät eingesetzt wird. Linkshänder bräuchten von Anfang an Stifte, die tüchtig verwischen. Wenn die Kinder das gleich zu Beginn des Schreibenlernens wahrnehmen, würden sie sich leichter linkshandgerechte Strategien aneignen, wie z.B. das Arbeitsblatt schräg hinzulegen, und diese dann auch zu akzeptieren bzw. wahrnehmungsmäßig zu integrieren. Hinsichtlich der Schreibmotorik entwickeln sich Linkshänder aber genauso wie Rechtshänder, wie Dr. Christian Marquardt und ich in einer umfangreichen Studie von 2003 bis 2007 festgestellt haben*.
Foto: Dr. Johanna Barbara Sattler
Welche Auswirkungen hat es, wenn Linkshänder vornehmlich Arbeitsmaterialien für Rechtshänder verwenden?
Wenn ich das falsche Arbeitsmaterial habe, also immer wieder Dinge nicht mit meiner Führungshand ergonomisch passend machen kann, bin ich benachteiligt. Ich brauche etwas länger, es wirkt umständlicher und ungeschickter. Und das bekommen Linkshänder auch oft zusätzlich zu eigenen Unsicherheitsgefühlen von der Umwelt deutlich vermittelt. Sämtliche Alltagsgegenstände, Arbeitsplätze für Erwachsene, Computerplätze für Schüler, aber auch Spielsachen für Kinder sind für Rechtshänder ausgelegt. Die Kurbeln an Spielzeugbaggern z.B. befinden sich in der Regel auf der rechten Seite. Die Linkshänder selbst sagen dann gerne, „das geht schon“. Sie sind das gewohnt und es bleibt ihnen auch nichts anderes übrig. Aber warum soll jemand immer wieder von morgens bis abends die nicht so geschickte Hand benutzen? Das ist ergonomisch unsinnig. Und das kann zu Frustrationen führen, zu tatsächlichen Ungeschicklichkeiten, zu geringer Motivation beim Spielen, Malen und Schreiben und zu einer ständigen Überforderung und erforderlichen Anpassung.
Kurzvita:
Dr. Sattler, selbst Linkshänderin, befasst sich seit über 30 Jahren mit dem Phänomen der Händigkeit in Gesellschaft, Kunst und Kultur und ihrer medizinischen und psychologischen Bedeutung und gilt als führende Expertin auf diesem Gebiet. 1985 entstand die „Beratungs- und Informationsstelle für Linkshänder und umgeschulte Linkshänder“, in München, die sie seit Beginn leitet. Diese Beratungsstelle ist auch Zentrum eines Netzwerks von Fachleuten, Beratungsstellen und Selbsthilfeinitiativen im pädagogischen, therapeutischen und medizinischen Bereich.
Forschungen und Entwicklungen von pädagogischen Materialien und Literatur sind ein Schwerpunkt ihrer Arbeit von Anfang an. So erschien 1993 im Auftrag des Bayerischen Kultusministeriums die Handreichung "Das linkshändige Kind in der Grundschule", die inzwischen in der 16. Auflage ist und Einfluss auf die Lehrplanaussagen zur Linkshändigkeit in Bayern und anderen deutschen Bundesländern genommen hat.
*Johanna Barbara Sattler, Christian Marquardt, Motorische Schreibleistung von linkshändigen und rechtshändigen Kindern in der 1. bis 4. Grundschulklasse. In: Ergotherapie und Rehabilitation, 01/2010 und 02/2010. Deutscher Verband der Ergotherapeuten, 1. Teil, S. 26-32 und 2. Teil, S. 24-28