Dr. Angela Webb im Gespräch mit dem Schreibmotorik Institut Februar 2017
„Handschreiben ist eine Fähigkeit, die richtig gelehrt werden muss“ – Schreibmotorik findet Berücksichtigung in Lehrplanänderungen
Seit 2014 unterstreichen sowohl der bayerische LehrplanPLUS als auch der nationale Lehrplan im Vereinigten Königreich die Bedeutung eines guten Schreibunterrichts für die Entwicklung einer leserlichen und effizienten Handschrift. Dr. Angela Webb, Vorsitzende der National Handwriting Association, berichtet über die Hauptprobleme und Erfahrungen im Vereinigten Königreich. Die Situation dort unterscheidet sich deutlich von der in Deutschland. Bislang fand Schreibunterricht vorwiegend im Vorschulbereich statt, wenn die Kinder also gerade einmal vier Jahre alt sind. Nach dem Erlernen des Alphabets gab es keinen weiteren Schreibunterricht im eigentlichen Sinn mehr.
Warum ist es so wichtig, in schulischen Lehrplänen mehr Gewicht auf die Schreibmotorik zu legen?
Forschungsergebnisse legen den Schluss nahe, dass das Schreiben mit der Hand das kognitive Lernen auch in anderen Bereichen des Curriculums verbessert. Zum Beispiel, wenn es um Erinnerungsvermögen oder die Qualität von Aufsätzen geht. Die Fortsetzung des Schreibunterrichts über die 4. Klasse hinaus wurde nun in den nationalen Lehrplan aufgenommen, ebenso wie das Lehren der Schreibgeschwindigkeit. Diese Änderungen wurden vorgenommen, nachdem sich in standardisierten Leistungstests gezeigt hatte, dass die Schreibkompetenz ab einem Alter von sieben Jahren abnimmt, wenn bis zum 11. Lebensjahr kein weiterer Schreibunterricht mehr erteilt wird. Handschreiben ist eine Fertigkeit, die richtig gelehrt werden muss. Unterrichtet man Kinder weiter, bis sie in hohem Maße Automatismen entwickelt haben, verringert sich auch die Gefahr, dass sie langfristig keinen Erfolg haben. Kinder müssen in der Lage sein, möglichst ohne bewusste Kontrolle zu schreiben, damit die für das Verfassen von Inhalten notwendigen kognitiven Ressourcen nicht zu sehr in Anspruch genommen sind. Dies sollte das Ziel aller Lehrer sein. Unterstützen kann man sie dabei durch Richtlinien, die darüber Auskunft geben, wie lange, wie oft, und welche kritischen Schreibstile geübt werden sollten.
Was ist der derzeitige Status quo des Schreibunterrichts in Großbritannien?
Man schätzt, dass heutzutage das Schreibniveau jedes fünften Mädchens und jedes dritten Jungen nicht hoch genug für den Übertritt in eine weiterführende Schule ist. Dies gilt es zu verbessern. Und so liegt der Fokus derzeit auch auf den Mindestanforderungen an den Schreibunterricht. Schulen, die nach dem nationalen Lehrplan unterrichten, müssen auch das Handschreiben lehren. Allerdings sind die neuen staatlichen Academy Schools sowie Privatschulen nicht an diese Vorgabe gebunden. Interessanterweise zeigt sich aber gerade bei diesen beiden Schularten trotzdem das Bestreben, diese Fertigkeiten zu lehren. Seit der Einführung der neuen Richtlinien scheint sich eine allmähliche Erhöhung des Schreibniveaus ergeben zu haben, wenngleich die tatsächlichen Ergebnisse noch geprüft werden müssen und natürlich immer noch Optimierungsbedarf besteht. Entscheidend für eine erfolgreiche Umsetzung dieser Richtlinien ist das Management durch die Schulleitung, damit alle Mitglieder der Schulgemeinschaft das Handschreiben wertschätzen und ihm Priorität einräumen.
Welche Aufgabe kommt dabei den Lehrern zu?
Die Schulung der einzelnen Lehrer, das Schreiben zu lehren, ist von entscheidender Bedeutung. Auf sie kommt es an, weil sie direkt mit den Schülern arbeiten. Die Lehrer sollten zunächst die weitreichenden Konsequenzen verstehen, wenn sie gewährleisten, dass Schüler sicher schreiben können. Sie sollten aber auch in den Grundlagen geschult sein, wie man den Schülern diese Fertigkeit vermitteln kann. Leider haben zu viele Lehrer im Vereinigten Königreich überhaupt keine Ausbildung in diese Richtung erhalten, weder an der Universität noch während ihres Referendariats oder einer späteren Tätigkeit an einer Schule. Dieses Problem müssen wir angehen. Die Regierung bietet keine Weiterbildung in diesem Bereich an, jedoch veranstaltet die gemeinnützige National Handwriting Association Kurse für Lehrer, Assistenzlehrer und Therapeuten sowie interne Schulungen für einzelne Schulen.
Welche Vorschläge können Sie anderen Ländern aufgrund Ihrer Erfahrungen im Vereinigten Königreich zum Thema Handschrift machen?
Ein Sprichwort besagt, dass es nicht nötig sei, das Rad neu zu erfinden. Andere Länder können von der Grundlagenarbeit profitieren, die im Vereinigten Königreich bereits geleistet wurde, indem sie unsere Erfolge bewerten und diese Daten zur Optimierung der jeweils eigenen Situation nutzen. Um die Handschrift in Schulen und Bildungseinrichtungen zu fördern, muss die Regierung Initiativen auf den Weg bringen, wenn sich wirkungsvolle und dauerhafte Veränderungen in den Schulen einstellen sollen. Der erste Schritt sollte meiner Einschätzung nach Lobbyarbeit bei der Regierung sein. Im Bildungswesen muss bei der Lehrerausbildung und in Schulen konsequent an einem Strang gezogen werden, damit das Handschreiben Wertschätzung erfährt und seine Bedeutung im gesamten System verstanden wird. Das größte Problem ist die Einflussnahme auf die für die Politik Verantwortlichen: Man muss ihnen relevante Daten vorlegen, um sie mit ins Boot zu holen. Zu überlegen ist dabei, wie diese Daten allgemeine Verbreitung finden können.
Kurzvita:
Dr. Angela Webb ist Psychologin mit Schwerpunkt auf kognitive und akademische Schwierigkeiten von Kindern mit Entwicklungsstörungen, insbesondere die Umschriebene Entwicklungsstörung motorischer Funktionen (UEMF). Daraus entstand ihr Interesse an Kindern mit Schreibschwierigkeiten. Sie ist Teil eines interdisziplinären Teams der The Queen Anne Street Practice in Central London und arbeitet als Beraterin für Schulen. Außerdem hält sie in Teilzeit Vorlesungen am Institute of Education der Universität von London, wo ihr Forschungsschwerpunkt auf den Zusammenhängen zwischen Schreibschwierigkeiten und schlechten Ergebnissen im Schreiben von Aufsätzen liegt.